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Theodor Pöllinger

Theo "Ich lebe jetzt seit zwei Jahren unter der Wittelsbacherbrücke. Das ganze Jahr, nicht wie diese Fuzzis, die hier erst im Mai auftauchen und im Winter ihren Arsch im Männerwohnheim wärmen. Ich will meine Freiheit, aber vor allem will ich meine Ruhe haben. Ich werde hier auch nicht wieder wegkommen, für mich ist diese Brücke die Endstation. Irgendwann kneife ich den Arsch zu, und dann ist endlich Ruhe - Schluss, Aus, Feierabend.

Mir ist das schlimmste Unglück passiert, was einem Vater passieren kann. Meine Tochter Anja war damals zehn Jahre alt und in der vierten Klasse. Zu Weihnachten sollten sie ein Krippenspiel aufführen. Anja war die Maria, wir waren sehr stolz auf unsere Kleine. Ich wollte sie am Freitag Abend von der Probe abholen. Vorher war ich in meiner Stammkneipe, ein paar Bier trinken. Ich hatte beinahe die Zeit vergessen, musste mich ganz schön beeilen, noch rechtzeitig hinzukommen. Hat aber geklappt, auf mich kann man sich verlassen, das hat Anja auch gewusst. Wie viel Bier ich getrunken hatte, weiß ich beim besten Willen nicht mehr, drei oder vier, ich hatte in der Wirtschaft einen Deckel und habe einmal im Monat die ganze Zeche bezahlt. Ist auch egal, auf jeden Fall konnte ich noch fahren. Damals waren ja noch 0,8 und selbst sternhagelvoll fahre ich noch besser als die meisten anderen Idioten. Es war dunkel, eine zweispurige Landstraße und als ich gesehen habe, dass mir einer entgegenkommt, war der schon weit über der Mitte und im nächsten Augenblick hat es gekracht - das ging alles so schnell, da konnte ich gar nichts machen, mit oder ohne Bier. Der hat die Kurve geschnitten. Anja ist in meinen Armen gestorben. Bevor der Krankenwagen da war, hatte ihr kleines Herz aufgehört zu schlagen. Das kann sich kein Mensch vorstellen, wie sich das anfühlt. Ich habe dann eine Weile ziemlich viel gesoffen, aber das wird wohl jeder verstehen. Nur meine Frau nicht. Sie erkennt den Mann nicht wieder, den sie mal geliebt hat. Ich kannte mich ja selbst nicht mehr aus. Wenn ein Vater sein Kind beerdigen muss... das hat doch keinen Sinn. Wir haben uns angeschwiegen oder gestritten und alles was ich gesagt habe war falsch, ganz egal, ich hatte einfach nie Recht. Ich konnte machen, was ich wollte, es ging nicht mehr, dann ist sie ausgezogen. Irgendwann konnte ich die Deckel in der Kneipe nicht mehr zahlen und die Miete schon gleich zweimal nicht. In der Not zeigt sich, ob man wahre Freunde hat. Ich hatte keine, dass habe ich vorher auch nicht gedacht, aber so ist es nun mal. Ich habe dann keine Wohnung mehr gefunden und angefangen, auf Platte zu machen. Das ging ganz gut, man kriegt ziemlich schnell mit, wo man hin kann und wo nicht.

Das mit Anja ist jetzt sieben Jahre her. Sie liegt auf dem Südfriedhof, der ist nicht weit weg von der Wittelsbacherbrücke. Ich gehe da fast jeden Tag vorbei. Aber seit der Beerdigung war ich nicht mehr am Grab, das schaffe ich einfach nicht. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, das ist ja die ganze Scheiße. Ich würde jederzeit mein Leben für das von Anja eintauschen. Im Januar warn's mal Minus 18, da kamen Leute unter die Brücke und haben gemeint, ich kann hier nicht bleiben, das wäre zu kalt und ich würde erfrieren. Aber so leicht stirbt's sich nicht. Wenn ich Glück habe vielleicht im nächsten Winter."